Es ist noch nicht lange her, da haben wir regelmäßig im Altarraum von St. Marien gesessen und geschwiegen. Es war eine kleine Gruppe. Aber die Erfahrungen waren intensiv. Irgendwann überlebte unser Vorsatz, uns im Schweigen zu üben, die Winterpause nicht. Neulich las ich den unten zitierten Text von Nikolaus Huhn. Er trägt den Titel “Reden mit dem Unsichtbaren” und drückt auf poetische und unkonventionelle Weise das aus, was wir auch damals empfanden. Wer diesen Weg des Gebets einmal ausprobieren will, orientiere sich auf dieser Website: www.zum-schweigen.de. Und wer Lust hat, mit mir eine solchen Gruppe des Schweigens wieder zu beginnen, melde sich bei mir!
Reden mit dem Unsichtbaren von Nikolaus Huhn
Wer mit jemandem redet, der nicht da ist, hat entweder ein Handy mit Freisprechanlage oder er bekommt vom Psychiater eine ICD Code irgendwo zwischen F20 und F29 zugewiesen. Das kann man behandeln, das zahlt die Kasse. Wenn zwei Personen sich gemeinsam so einen Flitz leisten, ist es schon geselliger. Man nennt das dann Folie á deux, ein Spleen zu zweit. Redet eine Gruppe oder gar große Bevölkerungsteile gemeinsam mit einem Unsichtbaren, heißt das Glaubensgemeinschaft oder Kirche.
Beten ist etwas für Schwächlinge. Eine Lebenskrücke für solche, die die Nacktheit und Absurdität unserer Existenz nicht ertragen können. So spöttelt gern, wer mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht und seinen Sinnen traut. Diese Sinne nehmen allerdings nur einen kleinen Teil der Wellenlängen und chemischen Verbindungen wahr und der Planet, zu dem der feste Boden gehört, taumelt mit ungewissem Ziel durch ein rätselhaftes Universum.
Manche überlassen das Reden mit einem Unsichtbaren aus natürlicher Schüchternheit und instinktiver Befangenheit lieber dem Pfarrer. Der hat schließlich drauf studiert, wird dafür bezahlt und macht das doch auch recht schön. Oder wir beten – ein bisschen ratlos – an den Themen entlang, die die gestrige Redaktionskonferenz der Tagesschau für berichtenswert hielt.
Nicht zu unterschätzen ist, wie sehr durch die Art des Betens Gruppenzugehörigkeit definiert wird. Ob Freikirchler vertauensvoll und völlig frei auf Gott einreden, ob Katholiken den Rosenkranz murmeln, Muslime sich zu Boden werfen oder Protestanten die Worte wählen, die Martin Luther dem Volk seinerzeit von den Lippen ablas. Hier wird – als Kollateralnutzen des Gebets – Stallgeruch generiert, Dazugehören und Nichtdazugehören beschrieben. Ganz abgesehen vom verbreiteten Bestellbeten, bei dem Gott Aufträge erteilt werden, die bei Alexa besser aufgehoben sind.
An dieser Stelle muss ich mal kurz einflechten, was ich für den Sinn der Welt halte: Einer, eine Wesenheit, eine Person, der sich „Ich bin da“ nennen lässt, der Urgrund, Urgründer von allem was ist – außerhalb der Zeit – in einer Dimension, die wir nur ahnen können, lässt ein Universum werden, wie wir es kennen. Uns lässt er dort auf einem Erdenkrümel mit vergleichsweise sehr kommoden Bedingungen leben. Er liebt seine Schöpfung und die Menschen ohne Maß und verzehrt sich vor Sehnsucht danach, auch von uns geliebt zu werden. Aus freien Stücken. Das kann nachvollziehen, wer mal verliebt war, ohne dass seine Liebe erwidert wurde. Und wie im ehelichen Schlafzimmer ist es ihm offenbar kein Gewinn, uns zur Zuneigung zu nötigen. Die völlige Freiheit ist der Atem de Liebe. Er scheint sich nach unserer freien Zuwendung zu sehnen, er wirbt um unser Herz. Wie in der Beziehungskiste des Alten Testaments zu sehen, gelingt das mal besser, häufig aber auch schlechter. Dann lässt er einen auftreten, den er als Sohn bezeichnet und an dem sichtbar wird, wie er’s meint. Er lässt geschehen, dass dieser Sohn abgeschlachtet wird, ohne dass er sich etwas zu Schulden kommen ließ. Und er lässt durchsickern, dass keiner eine größere Liebe hat, als einer, der sein Leben hingibt für seine Freunde. Offenbar schreckt Gott in seinem Werben um unsere Liebe vor nichts zurück.
Ohne diese erlösende Vorstellung kann ich den so schönen wie brutalen, so banalen wie prickelnden Vorgängen auf dieser Welt kaum einen Sinn abgewinnen, außer, dass das Leben eben das Leben ist. Zum Atheismus und Materialismus fehlt mir die dafür nötige Glaubensstärke.
Und Beten scheint mir das Feiern dieser gegenseitigen Zuneigung zu sein, das Antworten auf Gottes Sehnsucht, indem wir einfach da sind vor ihm und stillhalten. Dass sich in dieser Stille, im Magnetfeld Gottes, unsere Psyche und unser Leben sortieren kann, gehört zu den so anstrengenden wie heilsamen Erfahrungen Glaubender. Jesus meinte, wir sollten nicht zu viele Worte machen beim Gebet und er hat uns ein karges – all inclusive – Gebet hinterlassen. Wenn wir so vermessen sind, anzunehmen, jemand, den wir nicht sehen, könne uns hören – es geht hier weder um die Stasi noch um die NSA – dann sollte es ihm auch nicht schwer fallen unsere Gedanken und uns als ganze Person zu kennen.
Noch ein Schwenk ins eheliche Schlafzimmer: Auch dort redet man und frau nicht pausenlos aufeinander ein – vermute ich zumindest – sondern sie genießen das Beieinandersein. Gesten, Nähe, Berührung, unerklärliche Freude. Das Absinken der Aufmerksamkeit vom Kopfgewusel in die Herzgegend. Das offene hörende Herz als Organ der Wahrnehmung Gottes. Das ist so anspruchsvoll wie einfach und bedarf vielleicht der Übung, nicht aber der Vorbildung. Die alten Christen forderten einander auf: Erhebet Eure Herzen. Und ich vermute, es hat eine Weile gebraucht, bis sie freiweg antworten konnten: Wir haben sie beim Herrn. Alles was unserem Herzen entfährt, scheint mir Gebet zu sein, seien es Worte, sei es eine Bitte, ein Stoßgebet, sei es ein unaussprechliches Seufzen. Das mag etwas romantisch klingen, aber ohne diese Beziehungspflege laufen wir Gefahr, zu Menschen zu verkümmern, die akribisch versuchen, eine Liste von Ge- und Verboten abzuarbeiten und zu befolgen, um ihr Strafmaß möglichst niedrig zu halten.
„Die Sehnsucht selbst ist dein Gebet“, sagt Augustinus „und wenn die Sehnsucht anhält, dauert dein Gebet.“ Woher diese Sehnsucht nehmen, wenn nicht stehlen? Ein alter Rabbi fragt seinen suchenden Schüler, der keine Sehnsucht nach Gott empfindet, ob er denn Sehnsucht nach der Sehnsucht habe. Ja, sagt der Schüler. Das genügt, meint der Rabbi.
Zu dieser Foile á dieu, der Verrücktheit nach Gott mag ich mich bekennen. Gebet scheint mir also nichts für Schwächlinge sondern für Menschen, die so stark sind, zu erkennen, wie schwach sie sind, wie fragil, wie liebebedürftig.